Die Jahre aus Blei by Insel Verlag

Die Jahre aus Blei by Insel Verlag

Autor:Insel Verlag [Verlag, Insel]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-10-04T04:00:00+00:00


Giulia und Cristiano

Giulia

Das Manuskript schloß mit der Ankündigung eines Selbstmords. Ich habe mich unzählige Male gefragt, ob es richtig war, daß Cristiano diese Aufzeichnungen las. Doch inzwischen war nicht mehr ich es, die entschied, vielmehr waren es die Umstände.

In den letzten Wochen war ich unruhig und nervös. Es gab nicht ein Abendessen mehr, bei dem ich mich länger als eine halbe Stunde konzentrieren konnte, es gab kein Gespräch mehr, das mir wirklich etwas bedeutete. Plötzlich war alles undurchsichtig geworden. War das das Land, in dem zu leben ich gehofft hatte? Waren wir wirklich ein normales Land geworden?

Daniele war davon überzeugt, daß der neue Terrorismus nur ein schwacher, wenn auch tragischer Abklatsch des Terrorismus der siebziger Jahre war. Er sagte, man müsse weiter vorausschauen, sagte, wir seien in Europa. Beim letzten Mal, als er sich für dieses Thema begeisterte, saßen wir mit zwei befreundeten Journalisten beim Essen in einem Restaurant hinter dem Pantheon. Ich sah sie geistesabwesend an und hatte den Eindruck, etwas kaum Wahres, kaum Wirkliches vor mir zu haben. Nur Schablonen, Banalitäten, Gemeinplätze.

Daniele warf mir einen besorgten Blick zu. War etwas nicht in Ordnung? Was war mit mir los? Ich hingegen fragte mich, was in den letzten zwanzig Jahren mit mir los gewesen war, wie ich hatte weiterleben können, als wäre nichts geschehen, warum ich meinem Vater nicht mehr Fragen gestellt hatte. Ich fragte mich, was ich meinem Sohn über mich erzählen sollte, wenn ich nichts über seinen Großvater, über seinen Urgroßvater und über jene merkwürdigen Geschichten wußte, die nie aufgeklärt worden waren.

Doch unvermittelt gerieten die Dinge in Bewegung. An einem Freitag klingelte morgens mein Handy. Es war Francesca, aus Paris. Sie sagte nur wenige Worte: »Giulia. Das Paket, das du abgeschickt hast, ist zurückgekommen. Du mußt herkommen und es abholen.« Sie beendete das Gespräch, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich überlegte, ob das Paket an den Absender zurückgegangen war und Francesca keine Lust hatte, es mir nach Rom weiterzuschicken. Ich überlegte, ob ich das Bandoneon nicht in Paris lassen könnte: Es nützte niemandem etwas, es war nur etwas Nostalgisches, ein sehr persönliches Anliegen meinerseits. Es hatte keinerlei Bedeutung.

Doch da waren auch die Aufzeichnungen, und die mußte ich mir zurückholen. Ich durfte sie niemandem überlassen. Und Cristiano? War er unter der Adresse, die Francesca von ihm hatte, nicht mehr zu finden? Vielleicht hatte Francesca das alles ja nur erfunden, hatte das Paket gar nicht abgeschickt, hatte es geöffnet und dann, nachdem sie das Manuskript jemandem zu lesen gegeben hatte, alles wieder zusammengepackt und mich angerufen.

Francescas Anruf versetzte mich in die alten Zeiten zurück. Er hatte den gleichen Klang wie manche Anrufe von Marcello viele Jahre zuvor. Eine angespannte, barsche Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Ich überlegte, ob ich mit Daniele darüber sprechen sollte. Vielmehr beschloß ich es. Es war an der Zeit. Nach dem Abendessen würde ich mir eine Zigarette anzünden und ihm sagen, daß ich mit ihm reden müsse.

Es blieben noch vier Stunden. Und in diesen vier Stunden tat ich nichts anderes, als mir Minute für Minute einzureden, daß es besser war, es nicht zu tun, und daß es keinen vernünftigen Grund gab, darüber zu sprechen.



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